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Buch des Monats

Die schönste Version

Ruth-Maria Thomas

Ist es nicht schön, wenn du dich durch ein Buch so sehr verstanden fühlst, dass du dich schämst für Dinge in deiner Jugend? Deshalb ist Die schönste Version zurecht für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Rezension von Luisa Gehnen

„Was ist das für ein Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen?“ fragt Jellas Freundin Lin sie mit ruhiger Stimme. Jella weiß, wie sich das anfühlt. Sie weiß sogar sehr gut, wie sich das anfühlt: „Da ist jemand, der stärker ist als du und du bist darauf angewiesen, dass er dich loslässt. Nicht zu wissen, wann das passiert, ob du gleich wieder Luft bekommst oder erst in 10 Sekunden oder einer Minute, oder fünf oder nie wieder“. Ruth-Maria Thomas erzählt in Die Schönste Version auf berührende und krasse Weise die Geschichte von Jella. Sie erzählt davon, wie es ist, weiblich sozialisiert zu werden im Patriarchat, in einer ostdeutschen Kleinstadt, in den Nullerjahren. Ein Generations-Portrait der Millennials, ganz nüchtern, ganz nah. Während der Roman mit Jellas Flucht vor ihrem Freund und ihrer Aussage bei der Polizei beginnt, fängt ihre Geschichte schon viel früher an - mit ihrer Kindheit und Jugend in der ostdeutschen Kleinstadt, die geprägt ist von Glitzer-Lipgloss, dem Wunsch dazuzugehören, dem Male Gaze zu entsprechen, dem Wettbewerb mit anderen Frauen und vor allem dem Willen, bloß alles richtig zu machen. Male Gaze ist ein Begriff, der das Phänomen bezeichnet, dass Filmemacher, also Männer, ihre Filme aus einem sexualisierenden Blick heraus schrieben und produzierten.

Als Yannick in Jellas Leben tritt, wird auf einmal alles anders. Er ist viel sanfter als ihre bisherigen Freunde. Ein Künstler, wohlerzogen, weich, zärtlich und sensibel. Für ihn will Jella die schönste Version ihrer selbst werden. Dafür die Jugend in der Platte endlich hinter sich lassen, weg von ihren früheren Freundinnen und Freunden, ihrem einsamen und einsilbigen Vater und vor allem weg von den schlimmen Erfahrungen vergangener Beziehungen. In ihrer viel zu teuren, aber immerhin hellen und geräumigen Wohnung im Stadtzentrum will sich Jella jetzt nur noch auf ihre Zukunft konzentrieren, auf ihre Zukunft mit Yannick. Auf das gemeinsame Leben, das sie geschaffen haben.

Schuld, Liebe und Verantwortung

Aber auch Yannick zeigt zu Beginn der Beziehung nur einen Teil von sich. Die Wut, den Schmerz unterdrückt er, so wie Jella auch große Teile ihres Lebens vor Yannik verschweigt, bis alles kippt. Streits eskalieren, erst verbal, dann körperlich. Provokationen, Dominanz, Unterwerfung und Schläge fangen an, ihr Miteinander zu dominieren. Zwischen ihnen existieren nur noch radikale Emotionen, keine Kompromisse. Als wäre ihre Liebe nur wahrhaftig, wenn sie wehtut. Denn nie sind sie sich so nah, so leidenschaftlich wie im Exzess.

Ruth-Maria Thomas fängt die tiefen Gefühle zwischen Jella und Yannick mit ihrer nüchternen wie einfühlsamen Sprache ein. Häusliche Gewalt wird hier nicht romantisiert oder normalisiert. Sie wird viel mehr entmystifiziert und als das benannt, was es ist: kein Einzelfall. Zurück in ihrem Kinderzimmer, wirft Jella einen Blick in diese Vergangenheit, auf der Suche nach Anzeichen und Hinweisen dafür, wie es so weit kommen konnte. Dabei werden Themen wie Schuld, Liebe und Verantwortung berührend und krass aufgearbeitet. Begleitet von Erfahrungen, Ängsten, Wünschen und Glaubenssätzen, wie sie jede weibliche sozialisierte Person so oder so ähnlich kennt.

Schmerzhaft ehrlich

Dieses Buch hat mich so sehr verstanden, dass ich mich manchmal dabei ertappt habe, wie ich mich geschämt habe für Dinge in meiner Jugend: Ruth-Maria Thomas schreibt in Die schönste Version vor allem nachempfindbar, schambefreit und schmerzhaft ehrlich. So gut, dass es fast schon Angst macht. In einer Welt, in der noch immer so viele Erwartungen und Anforderungen an die weibliche Identität gestellt werden, ist es schwer, alles richtig zu machen – dem Bild zu entsprechen, wie ein Mädchen, eine Freundin, eine Liebhaberin, Partnerin zu sein hat.

Was Mut macht, sind Jellas tolle Beziehungen zu verschiedenen Frauen – Shelly, Lin, ihre Mutter. Ruth-Maria Thomas schildert sie ausdrucksvoll und liebevoll – Rollenvorbilder, ohne perfekt zu sein. Auch wenn sich Jella schwer tut, sich ihnen zu offenbaren, findet sie hier Liebe, Wärme und echten Zusammenhalt. Eine große Empfehlung für alle, die authentische Geschichten mögen, nominiert für den Deutschen Buchpreis. Die Ängste und Wünsche, aber auch die Orientierungslosigkeit der Generation Millennial fängt Ruth Maria Thomas berührend reflektiert ein: Es geht darum, wie wir uns in Beziehungsdynamiken verhalten und die Hemmschwelle sich mitzuteilen überwinden.

Ruth-Maria Thomas: Die schönste Version, 2024, 272 Seiten, Rowohlt Buchverlag. 

Buch des Monats – August

Die Geschichten in uns

Stell dir vor, du schreibst einen Roman, und dann kriegst du ein Buch in die Finger, in dem fast alle Fragen beantwortet werden, die dich seit Monaten quälen.

Rezension von Cordt Schnibben