Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben
Juli 18, 2024
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Wiederentdeckt

Der Report der Magd

Margaret Atwood

Zeitlos dystopisch und abgrundtief verstörend: Der Roman für eine freie Welt

Wiederentdeckt von Miriam Bunjes

Einmal im Monat liegt sie mit gespreizten Beinen zwischen den gespreizten Beinen der Ehefrau des Mannes, dem sie gehört. Und wird von ihm, Kommandant Fred, besamt. Bekleidet, ohne Nähe und ohne Sexualität. Die Ich-Erzählerin in Magarets Atwoods Weltklassiker „Der Report der Magd“ ist nur ein Gefäß, eine Gebärmaschine - das gewünschte Ergebnis der rituellen Vergewaltigung ihr einziger Daseinzweck im fiktionalen nordamerikanischen Staat Gilead, den wir in diesem Roman ausschließlich durch ihre Augen sehen.

Desfred - im kanadisch-englischem Original Offred - ist der Name, der ihr gegeben wurde, weil sie Freds Gefäß ist. Ihren eigenen Namen hat sie verloren, als die USA nach einer Naturkatastrophe zu einer religiösen Diktatur wurde, in der die „Söhne Jakobs“ herrschen und Frauen jegliche Rechte verlieren. Weil die Katastrophe zu fast vollständigen Unfruchtbarkeit der Bevölkerung führt, gilt sie als Gottes Strafe für Promiskuität, Abtreibung und Verhütung. Der Gottesstaat „Gilead“ verteilt Schuld und Rollen deshalb klar: Die wenigen Frauen, die noch gebärfähig sind, werden Mägde ergo Gebärmaschinen wie Desfred, unfruchtbare werden zum Arbeiten in die verseuchten Kolonien verschickt, oder können - wenn sie „anständig” sind - als „Martha“ Hausarbeit verrichten oder als „Tante“ in Umerziehungslagern den Widerstand ihrer Geschlechtsgenossinnen brechen. Einige wenige Frauen sind „Ehefrau“ eines Kommandanten, der kleinen Elite im Staat. Alle sind an den Farben ihrer Kleidung zu erkennen. Und am Aufgehen im System.

Fiktive Grausamkeiten, die es auch real gibt

Auch Desfred ist keine Heldin und es ist auch keine klassische Heldenreise, durch die uns die Autorin führt. Keine, in der die unterdrückte Heldin sich und die Hölle rettet, zu der die Welt in diesem dystopischen Patriarchat geworden ist. Stattdessen werden wir beim Lesen Zeuginnen der Diktatur, in expliziter Sprache - aber in der des Systems, in dem sie spielt. Desfred schreibt einen Report als letzten kleinen Akt des Widerstands - Lesen und Schreiben ist Frauen verboten - ein Protokoll für die Nachwelt, von der sie gar nicht weiß, ob es sie geben wird.

Durch diese Stilform des Romans erschließen sich die Details dieser Welt nach und nach, denn für die Erzählerin sind die Gegebenheiten selbstverständlich. Normal, dass Mägden die Augen ausgebrannt werden, weil die Ehefrau sie sündig findet und die meisten Schwangerschaften vom Gynäkologen stammen, der die Mägde damit vor den Kolonien bewahrt - wie selbstlos! Desfred trifft Freunde von früher, unter ihnen auch Heldinnen, wird in gefährliche Affären gedrängt - und bewahrt sich diesen Rest freier Gedanken, durch die sich eine bis zum letzten Zeichen fesselnde Geschichte entspinnt.

Warum die kanadische Visionärin Margaret Atwood noch keinen Literaturnobelpreis hat: Unverständlich. Dieses 1985 erschienene und weltbekannte Meisterwerk hat so oder so Kultstatus, nicht erst nach der Serienverfilmung 2017. Keine der hier erdachten Grausamkeiten hat es auf unserer Welt noch nicht gegeben, keine der weiter getriebenen Entwicklungen ist aus der Luft gegriffen. In Zeiten von Rechtsruck à la Orbán oder Trump, Abtreibungsverboten und Ausweisungsfantasien - oder auch in Trends wie #Tradwives finden wir Teile von Gilead. Deshalb ist das hier der Roman für eine freie Welt.

Margaret Atwood: Der Report der Magd (The Handmaid´s Tale), ins Deutsche übersetzt von Helga Pfetsch, 1985, 416 Seiten (in der Piper-Taschenbuch-Ausgabe)