Deutsch für Profis
Juli 2, 2025
Deutsch für Profis
Juli 2, 2025

Wiederentdeckt

1984

George Orwell

George Orwells 1949 erschienener Roman „1984” ist ein Jahrtausendwerk - mit der Macht, das Denken zu verändern, weil es hilft, die Mechanismen von Macht zu verstehen.

Wiederentdeckt von Miriam Bunjes

Ob der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko den Roman nochmal gelesen hat, bevor er vor drei Jahren „1984” verbot und den Verleger des Buches ins Gefängnis verbannte? Oder der republikanische Gouverneur Floridas, der den Roman kürzlich auf die immer länger werdende Liste der in Schulen verbotenen Bücher setzte, hat er das Buch gelesen? Neu ist die Angst vor „1984“ nicht. Der Roman war während des Kalten Krieges im gesamten Ostblock verboten, auch die DDR fürchtete die Gedanken, die dieses Buch auslöst.

Der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienene Roman geht weiter als andere Dystopien, er vollendet alle Diktatur-Erfahrungen der Zeitgeschichte zu einem totalitären System, das daraus gelernt hat - und keine Fehler mehr macht. Im fiktionalen Ozeanien mit der Hauptstadt London im fiktionalen Jahr 1984 wird die totale Kontrolle perfektioniert: ein Machtsystem durchdringt die Menschen bis aufs Innerste, steuert ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihr Handeln, ihre Erinnerungen.

„Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist”, so erklärt es die Hauptfigur Winston Smith dem Sprachwissenschaftler Syme. Die beide arbeiten im „Ministerium für Wahrheit” des Superstaates: Syme tüftelt an der neuen Ausgabe des Neusprech-Lexikons, das immer mehr Worte ausmerzt, auf dass „die Reichweite des Bewusstseins immer kleiner und kleiner wird”.

Winstons Job ist die Veränderung der Vergangenheit. Wenn Ozeanien nicht mehr mit Eurasien, sondern mit Ostasien Krieg führt, schreibt er archivierte Zeitungsartikel, Reden, Prognosen so um, als sei das schon immer so gewesen. Werden die Essensrationen um 30 Prozent gekürzt, jubeln durch Winstons Arbeit am nächsten Tag die Massen, sie seien um 20 Prozent erhöht worden. Und ist ein paar Jahre später wieder Eurasien der Feind, ist Eurasien immer der Feind gewesen. „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft” - diesen Leitsatz der allgegenwärtigen Partei macht er durch seine tägliche Arbeit wahr.

Syme wird bald sterben - was in diesem Staat noch mehr bedeutet als den physischen Tod, man wird „vaporisiert“, jede Spur eines Menschen wird aus der kollektiven Erinnerung gelöscht - auch das wird Winston während des Gesprächs denken. Nicht, weil er nicht absolut bis in die letzte Zelle seines Gehirns vom System Big Brother überzeugt ist. Ist er. Sondern: Weil er zu klug ist. Noch sind solche Gedanken für Winston denkbar. Ihre Austilgung schreitet fort im Jahr 1984.

Die ganze Systematik einer totalen und in sich perfekten Diktatur baut sich beim Lesen stückchenweise auf. Der Autor schont uns intellektuell kein bisschen, er fesselt uns mit der Kraft seiner fiktionalen Fakten. Wir lernen nicht nur semantische Details einer auf totale Überwachung ausgerichteten Sprache kennen, wir lernen dies alles aus der Sicht von Winston Smith, einem Mitglied der Äußeren Partei. Winston ist innerlich vom Weg abgekommen, entzieht sich den Tele-Screens (Bildschirme, die sowohl überwachen als auch Propaganda senden), um heimlich Tagebuch über seine verbotenen Gefühle und Erinnerungen zu führen.

Er beginnt eine verbotene Liebesbeziehung mit Julia, die auch Parteimitglied ist, versucht, über den bewunderten Kollegen O'Brien Kontakt mit der Untergrundbewegung (,die möglicherweise eine Erfindung der Partei ist,) Kontakt aufzunehmen. O´Brien stellt sich allerdings später als besonders fanatisches Parteimitglied heraus. Winston wird verhaftet und im „Ministerium für Liebe” so lange einer Gehirnwäsche unterzogen, bis das Ergebnis stimmt.

Die Geschichte habe gezeigt, dass es falsch ist, Märtyrer zu schaffen, erklärt ihm (und uns) Folterer O´Brien, denn mit ihnen bleiben falsche Gedanken bestehen. Gedankenverbrecher zu töten, reicht deshalb nicht aus. Am Ende müssen sie Big Brother lieben und auch in 2+2=5 die Wahrheit sehen. Von ihnen bleibt danach nichts. Keine Spur, kein falscher Gedanke. Bis niemand mehr denkt.

Wir lernen mit Winston systematisch, wie Macht funktioniert - vom flexiblen Wahrheitsverständnis über virtuelle Überwachung bis zur Verblödung der Massen durch Medienkonsum und Propaganda. 1984 ist sprachlich, philosophisch, historisch und auch erzählerisch ein Jahrtausendwerk, ist wie ein politisches Manifest, wie eine Geschichtsanalyse, wie ein semantisches Lexikon, ein Buch, das trotz (wegen) dieser Dichte bis zum letzten Satz fesselt. Und das die ganz großen Fragen der Menschheit stellt: Wie frei bin ich wirklich, und was heißt das genau? Und was ist hier und heute Wahrheit?

Syme und Winston hat es innerhalb ihrer eigenen Geschichte nie gegeben, sie wurden nicht geboren und sie konnten auch nicht sterben. Aber im Moment davor liebten sie den Großen Bruder. Der Totalitarismus siegt im Roman, nicht nur ein bisschen, sondern total. Dass dieser Roman noch immer “ausgemerzt” werden soll, zeigt, wo seine Wahrheiten stecken - im Detail. Wenn Kriegstote zu "Kollateralschäden" werden und der „Golf von Mexiko” zum „Golf von Amerika”.

„Big Brother is watching you”: Jeder kennt dieses Zitat, es ist Teil der Popkultur: Verweise auf 1984 sind schnell zur Hand, wenn autoritäre Tendenzen kritisiert werden, wenn der amtierende US-Präsident die Fakten verfälscht, wenn Krankenakten gläsern werden, wenn mal wieder über Gender-Sprache diskutiert wird - dann verweisen Kritiker auf die Orwellsche Gedankenpolizei, das „Neu-Sprech”, schicken Grüße vom „Ministerium für Wahrheit” an „Big Brother”, den omnipräsenten Strippenzieher hinter einem Unterdrückungssystem .

Im Jahr 2050, prophezeit der Roman, wird es gar nicht mehr möglich sein, falsche Gedanken zu haben, dann fehlen endlich die Worte dafür. Das Buch ist nicht Vergangenheit, es ist Gegenwart und Zukunft, lest es - mit euren Freunden, Kindern, Schülerinnen - nochmal und nochmal.

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Elke Schönfeld. 382 Seiten. Ersterscheinung: 1949

Wiederentdeckt

Vincent

Was würdest du tun, wenn du am Ende deines Lebens an allem zweifeln würdest, was du je geschaffen hast? In „Vincent“ gerät die gleichnamige Hauptfigur ins Zentrum der Pläne eines Mannes, der sein Lebenswerk umkehren will.

Wiederentdeckt

Das Lied des Propheten

Im dystopischen Roman von Paul Lynch, gerade mit dem Booker Preis ausgezeichnet, ist Irland ein Terrorstaat, gewachsen aus den Ängsten, die gerade auch im deutschen Bundestagswahlkampf geschürt werden

Wiederentdeckt

Der Schuhu und die fliegende Prinzessin

Ein Vogel, der Mächtige lenkt, die Liebe sucht und stets ein Ass im Ärmel hat: Peter Hacks’ *Der Schuhu und die fliegende Prinzessin* ist ein ebenso kluges wie fesselndes Märchen. Mit scharfer Ironie und meisterhafter Sprache erzählt es von zeitlosen Kämpfen um Macht, Menschlichkeit und Glück.

Wiederentdeckt

Krieg und Frieden

Tolstois „Krieg und Frieden“ ist ein epischer Roman, der mit brillanten Sätzen Geschichte, Macht und Menschlichkeit verbindet – zeitlos und unvergesslich.

Wiederentdeckt

Plantation Memories

„Plantation Memories“ beleuchtet in vierzehn kurzen Stories den alltäglichen Rassismus und das Fortwirken kolonialer Strukturen. Durch die Verbindung von Interviews, Psychoanalyse, Poesie und Geschichte thematisiert das 2008 erschienene Buch die anhaltende Diskriminierung Schwarzer Menschen und bleibt bis heute relevant.

Wiederentdeckt

Demon Copperhead

Eine brandaktuelle Hommage an Charles Dickens: Der mit dem Pulitzer Preis gekrönte Roman über ein Leben voller Ungerechtigkeit in den USA der Hillbillys ist ein grandioser sozialkritischer Schmöker - mit Zeug zum Standardwerk über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert