
Kreativ Schreiben. Handwerk und Technik des Erzählens
September 24, 2025
Kreativ Schreiben. Handwerk und Technik des Erzählens
September 24, 2025Wiederentdeckt
Das große Heft
Ágota Kristóf
Seit „Das große Heft“ 1986 erschien, von der Ungarin Ágota Kristóf auf Französisch geschrieben, gab es wahrscheinlich keinen passenderen Moment für seine Wiederentdeckung als heute - weltweit werden jeden Tag tausende Kinder zu Kriegsopfern.
Wiederentdeckt von Ania Faas

Der Roman spielt in einer ungewissen Zeit an einem ungewissen Ort. Eine verarmte Mutter bringt ihre Zwillingssöhne aufs Land zur Großmutter, damit sie den Krieg überleben. Für die Reise tragen sie noch weiße Hemden und Lackschuhe. Doch das wird sich ändern. „Wir nennen sie Großmutter. Die Leute nennen sie die Hexe. Sie nennt uns `Hundesöhne ́.“
Von jetzt an müssen die beiden Jungen um alles kämpfen, was das Leben ausmacht, Essen, Schlafen, Unversehrtheit. Zuerst werden sie schmutzig. Kleider und Schuhe zerfallen, bis die Haut braun und schrundig ist, das Haar wächst schulterlang. Die beiden Jungen beschließen, sich selbst abzuhärten, bis sie nichts mehr spüren. Sie schlagen sich, fügen sich Brandwunden zu, damit sie nicht mehr weinen, wenn die Großmutter sie prügelt.
„Wir wollen nicht mehr rot werden und zittern“, also beschimpfen sie sich gegenseitig, bis sie die Liebkosungen ihrer Mutter endgültig vergessen, und damit auch den Schmerz. Sie betteln, bewaffnen sich, schlachten, quälen Tiere und ihre eigenen Körper, geben sich den Perversionen der Erwachsenen hin, denn ihr Ziel muss erreicht werden: absolute Stärke.
Dazu gehört, das ist ihnen klar, die gedankliche Widerstandskraft. Ein Wörterbuch und eine Bibel sind die Grundlage für heimliche Schulstunden auf dem Dachboden. Jeder muss einen Essay schreiben, den der andere verbessert. Gute Aufsätze werden in das Große Heft übertragen. Was gut oder nicht gut ist, dafür haben sie „eine sehr einfache Regel. Der Aufsatz muss wahr sein. Wir müssen beschreiben, was ist, was wir sehen, was wir hören, was wir machen.“
Auch Ágota Kristóf schreibt in ihrem Roman kein überflüssiges Wort. Kurze Kapitel und Sätze, viele Dialoge, kaum Adjektive. Namen haben die Jungen nicht, und wie es ihnen gefällt geben sie abends die engelsgleiche Gestalt, am nächsten Morgen die widerlichste Kreatur.
Volle Kontrolle.
Das sind keine Elendskindlein wie bei Victor Hugo, für die wir mitfühlend auf Wunder hoffen. Auch keine makabren Freakboys aus einer Federzeichnung von Edward Gorey. Was so magnetisch in die Geschichte zieht – Leser*innen aus über 30 Ländern – ist die furchtbare Erkenntnis, dass diese beiden Kinder stolz darauf sind, alles zu vollbringen, was die Erwachsenenwelt von ihnen zu verlangen scheint.
Mit Perfektion meinen sie, keine menschliche Empfindung mehr zu haben. So radikal ausgemalt, sind die beiden Jungen das grauenhafte Abbild jedes Kindes im Krieg.
Natürlich hat der Roman kein Happy End. Im Gegenteil, er schließt mit der für Zwillinge größtmöglichen Grausamkeit und schiebt seinen Leser*innen nicht sanft, sondern wie ein Stahlbolzen ins Bewusstsein: Selbst wenn der Krieg endet, in diese beiden Menschenwesen kehrt das Leben wohl kaum zurück.
Regisseurin Jette Steckel inszeniert „Das Große Heft“ derzeit am Bochumer Schauspielhaus und stellt es in den Kontext der Diskussionen um Kriegstüchtigkeit. Sie fragt: „Was, denken wir, kann das Pendel der Gewalt unterbrechen? Resilienz ist sicher keine Lösung.“ Wir, die erwachsenen Teilnehmer*innen der Gegenwart, haben die Wahl, ob wir ihr passiv oder verantwortungsvoll gegenübertreten wollen – „und ist dann nicht Panik die richtige Ansage?“
Ágota Kristóf, Das große Heft, Piper Taschenbuch Verlag München, Zürich. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Die Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel Le grand cahier.

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