Pendel der Gewalt
November 10, 2025
Pendel der Gewalt
November 10, 2025

Wiederentdeckt

Der siebte Mensch

John Berger, Jean Mohr

Vor 70 Jahren schloss die Bundesregierung das erste Gastarbeiter-Abkommen. Bis heute prägen die Menschen, die seither einwanderten, die deutsche Gesellschaft und das Stadtbild. Das Buch Der siebte Mensch ergründet Räume, die sich ungesehen hinter dem Wirtschaftswunder entfalteten.

Wiederentdeckt von Ania Faas

Eigentlich planten der Kunsthistoriker John Berger und der Fotograf Jean Mohr, einen Film zu drehen, konnten aber keine Finanzierung auf die Beine stellen. Ihr Buch, ein Hybrid aus Sachbuch, Poesie und Fotoreportage, besteht aus „mit Worten oder der Kamera aufgezeichneten Momenten“, Sequenzen aus der „experience of migrant workers in Europe“, wie es im originalen Untertitel hieß.

Die investigative Recherche der Autoren – „wir besaßen eine ungestüme Diskretion“ – blickt tief hinein in die Abläufe der Arbeitskraft-Logistik. Aber Der siebte Mensch ist auch ein poetisches Buch, das Ängste und Träume beschreibt, Umwege, Hindernisse, Trauer, Liebe, Ertragen. „Die schwarzen Nächte in der Fremde, der starrsinnige Stolz, zu überleben.“ Aus vielen Geschichten setzt sich wie ein Kunstwerk der Archetyp des Gastarbeiters zusammen. Die Schwarz-Weiß-Fotos laufen im Text mit, nicht als Illustration, sondern auf einer eigenen Erzählebene in diversen Formaten, verteilt auf die drei Kapitel Abreise (68 Seiten), Arbeit (127 Seiten) und Heimkehr (26 Seiten).

Istanbul in den 70ern. Ein Arzt im Kittel zeigt milde lächelnd sein „Museum“: In dem Schrank stehen an die hundert Flaschen, Wasserpistolen, Gläser, die Bewerbern um ein Arbeitsvisum in Deutschland abgenommen wurden. „Vor dem Anwerbungszentrum können Emigrationswillige `guten´ Urin auf dem Schwarzmarkt kaufen“ und mit der eigenen Probe heimlich vertauschen, „sie tun dies aus Angst, ihr eigener könnte nicht `gesund´ sein.“ Womöglich am selben Tag am selben Ort: „Ein Mann fragt, ob es eine Maschine gibt, die entdecken kann, was, wie er fürchtet, eine Art Krankheit in seinem Kopf ist: die Krankheit, nicht lesen zu können.“ Auch das gehört zur Vorgeschichte der Migration: Wie verzweifelt die Männer dem Lockdown ihrer unmöglichen Wirtschaftsgebilde entfliehen wollten, dorthin, wo es Optionen gab. Die erste Gastarbeiter-Generation, das war die „Emigration von Millionen Bauern in Länder, mit denen sie zuvor keinerlei Verbindung hatten.“

Im eröffnenden Gedicht des Buches wird ein Mann aufgefordert, als „Siebter“ ein apokalyptisches Leben zu bestehen. 1975, als das Buch erschien, war jeder siebte Arbeiter in Deutschland ein Migrant. Der unter Tage fuhr, Straßen baute, Fenster putzte, Stahl goss, Schuhe nähte, Autoteile schweißte.

Am Anfang steht der Eignungstest im Heimatland, Portugal, Türkei, Jugoslawien, Griechenland... „Nichts hat ihn auf diese Situation vorbereitet. Die demütigende Forderung, sich vor Fremden zu entblößen. Die Nummern, die ihnen mit Filzstift auf den Körper geschrieben werden.“ Der nach innen gekehrte Blick ist kein Blick der Sammlung oder des Gebets, sondern Normalität, „weil das Folgenschwere ihnen allen ausnahmslos widerfährt.“ Dann kommen sie an. Der Arbeiter bezieht sein Bett, eines von drei Betten bei neun Männern in einem Zimmer, es kostet ein Zehntel seines Lohns. Er läuft in den Supermarkt. „Die Fülle dessen, was da ist, geheimnisvoll da ist. Leute gehen langsam an diesen Regalen vorbei und nehmen hin und wieder ein Paket. Das völlige Fehlen jeglichen Gesichtsausdrucks lässt irgendwie auf Verstohlenheit schließen.“ Er zögert, es ihnen gleichzutun, „er könnte als Dieb beschuldigt werden.“ Am ersten Tag vor der Stechuhr trifft er die anderen Gastarbeiter, sie nehmen kaum Notiz voneinander. „Die Fremdartigkeit all dessen lässt ihn zuerst glauben, dass die Arbeit mehr Fertigkeiten fordert, als sie es tut. Er überträgt die Schwierigkeiten seiner eigenen Anpassung auf die Bewegungen, die er ausführen muss.“ Jede Regung, jeden Schritt vollziehen die Texte und Bilder nach, bis alles zur Gewohnheit wird. Nur die Sonntage bleiben schwierig.

Und das Ende? Der Heimkehrer sieht sich im Dorf um. „Das Dorf verhält sich wie ein verspotteter König. Stellt er sein Urteil zu offen infrage, dann wird nicht einmal sein neu errungenes Prestige ihn davor bewahren, als Aufrührer verurteilt zu werden.“ Einen sicheren Platz in seiner Heimat gibt es für ihn nicht mehr.

Die meisten Leserinnen und Leser des Buchs, so dachte sich Berger, werden nicht Gastarbeiterinnen sein. Er muss übersetzen. Schritt eins: Jedes Mosaiksteinchen haargenau betrachten. Schritt zwei: Die Mosaiksteinchen spiegeln, zusammenlegen und im richtigen Lichteinfall zum Publikum ausrichten. Dabei kann alles Mögliche schiefgehen, übersteuert wirken, heftig eingefärbt sein und so weiter. John Berger, dem linken Kapitalismuskritiker (drei Jahre zuvor hatte er die Hälfte seines Booker-Prize-Geldes an die British Black Panthers gespendet), dem Schriftsteller aus gutem Hause, passieren solche Fehlgriffe. Aber eines bringt er ins Ziel: Seine ungeteilte Aufmerksamkeit, und damit den Zeitaufwand, der nötig ist, um eine „Welle“, „Horde“ oder „Masse“ in Einzelne aufzulösen, sie als Menschen zu erkennen, so nah am Verstehen, wie es geht.

John Berger, Jean Mohr, unter Mitarbeit von Sven Blomberg: Der siebte Mensch. Eine Geschichte über Migration und Arbeit in Europa, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2016. Aus dem Englischen von Nils Thomas Lindquist. Die Originalausgabe erschien 1975 unter dem Titel A Seventh Man. A book of Images and Words about the Experience of Migrant Workers in Europe. Übersetzungen des Buches erschienen auf Türkisch, Griechisch, Arabisch, Portugiesisch, Spanisch und Punjabi

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