Taumeln
November 26, 2024
Taumeln
November 26, 2024

Schreiben über das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Stephen King

In Kings 382 Seiten über das Schreiben steckt sowieso noch sehr viel mehr: Ein spannendes Leben, Lektüretipps - vor allem aber die Inspiration, zu leben und zu schreiben.

Rezension von Miriam Bunjes

Mehr als 60 Romane, weit über hundert Kurzgeschichten, Novellen und Gedichte, manche davon auch unter Pseudonym, um den Markt nicht mit Stephen King-Büchern zu überschwemmen und den eigenen Erfolg zu testen: Liegt der wirklich noch an der spannenden Story oder doch am groß gewordenen Namen? Was eine Luxussituation! 

Umso wertvoller, dass der King of Horror nach einem schweren Unfall auf knapp 400 Seiten - für seine Verhältnisse ein kurzes Buch - seine Schreiberfahrung mit der Welt teilt.

Denn tatsächlich ist Stephen King einer der produktivsten Bestseller-Autoren unserer Zeit: Schreibblockaden kennt er nur in Anfängen, auch in biographischen Krisen und unter Drogeneinfluss schrieb er weiter. Und auch wenn über sein Genre - Horror -, die schnörkellose Sprache und den kommerziellen Erfolg schon viele Feuilletonisten die Nasen rümpften: 400 Millionen verkaufte Büchern, übersetzt in 40 Sprachen machen sein Erfahrungswissen und die Tipps aus seinem Sachbuch „Das Leben und das Schreiben“ für angehende Autorinnen zu einer Fundgrube - gerade weil das im Jahr 2000 erschienene Buch anders als eine typische Schreibwerkstatt ohne systematische Anleitung funktioniert. Stattdessen ist es persönlich: „Das Leben“ im Titel ist seine, von Fans mit Spannung erwartete, Biographie und - siehe Output - untrennbar mit seinem Schreiben verbunden.

Hundert Mal eine Inspiration haben, hundert Mal eine Handlung entwickeln, hundert Mal alles zu Papier bringen. Das geht wie?

Zum Beispiel so: Stephen King schrubbte als Hausmeister-Aushilfe die Rostflecken in den Mädchenduschen einer Highschool, wunderte sich über Duschvorhänge in einer Gemeinschaftseinrichtung -  und auch Tampon-Eimer hatte er bis dato noch nie zu Gesicht bekommen. Als sein Kollege den Inhalt für ihn mit einem, auch in der deutschen Übersetzung brutal klingendem, „für Muschi-Pfropfen“ zusammenfasst, rostig-rotes Wasser in den Abfluss läuft, sieht der junge, noch erfolglose und deshalb putzende Autor King folgendes Bild vor sich: eine Schülerin vor sich, die auch keinen Schimmer davon hat, auch nicht weiß, wie ihr geschieht, als sie hier vor allen Mitschülerinnen ihre erste Periode bekommt. Und als wäre das nicht verstörend genug, fangen die anderen an, sie mit besagten Pfropfen zu bewerfen. Was wäre, wenn sie durchdreht? Wie sieht es aus, wenn sie durchdreht?

Was wäre, wenn… so die Idee zu einem Bestseller kommt?

Stephen King erarbeitet genauso Ideen, die ganze Romane tragen: Schrubbend und träumend in der Highschool-Dusche erinnert sich der junge Stephen King an einen Zeitschriftenartikel über Telekinese mit der These, die Fähigkeit setze mit dem Blut der weiblichen Pubertät ein - und „Carrie“ war geboren: Kings erster Roman über ein Mädchen mit Psi-Kräften (erschienen 1974), fundamental-christlich erzogen, Außenseiterin und das mörderische Ergebnis von Mobbing, das sich erstmals in der Sportumkleide entlädt. Kings Durchbruch (den seine Frau übrigens aus dem Mülleimer fischte, auch das lernen wir im ersten autobiographischen Teil des Buches).

Die Dusch-Szene ist nicht nur die Schlüsselszene des Romans, sie ist der Ausgangspunkt für die Handlung. So eine Situation reicht nach King fürs Romane schreiben, denn die Handlung entsteht beim Schreiben, die Personen lassen sie wachsen, der Autor kennt sie vorher nicht. Stattdessen lässt er sich von der Situation leiten: Wie ist das Mädchen in die Dusche gekommen? Warum weiß sie nichts über weibliche Geschlechtsreife? Wer wirft die ersten Tampons? Wie funktioniert Gruppendynamik unter Highschool-Mädchen? Romane schreiben - mit seiner Technik -  vergleicht King mit dem Heben eines Fossils, das beim Schreiben nach und nach freigelegt wird. Bei Carrie kommt so eine ultrachristliche Familie zum Vorschein und eine Mitschülerin, die zwischen schlechtem Gewissen und Ekel, die ihren Football-Schwarm-Boyfriend überredet, mit Carrie zum Abschlussball zu gehen.

Was wäre, wenn….so die ganze Handlung entsteht

Und Handlung ist alles, das ist Kings zentrale Botschaft. Zum Ausheben des Fossils reicht eine Ausgangssituation. Was wäre, wenn …eine Frau und ihr Kind mit dem Auto liegen bleiben und ein tollwütiger Hund erscheint (Cujo, 1981)? Was wäre, wenn ein Durchschnittsmensch nach einem Koma Gedanken hören kann (Dead Zone, 1976)? Oder eben: Was passiert, wenn ein Mädchen in einer Schuldusche mit Tampons beworfen wird?

Um das Fossil zu heben braucht es auch: einen Werkzeugkasten - der Part im Buch, der am ehesten wie ein Lehrbuch funktioniert. Hier schreibt King über Wortschatz, Grammatik und Stil, gibt praktische Tipps, wie sich Passiv vermeiden lässt, wie Beschreibungen funktionieren oder nicht funktionieren, wie Wortschatz entsteht - Zuhören, Zuhören, Reden, Reden, Lesen, Lesen, Schreiben, Schreiben. Der Wortschatz des Klempners ist dabei so wertvoll wie der des Lehrers. Dass King im Waschsalon gearbeitet hat, hilft ihm genauso wie das Lesen von Hemingway oder dem Playboy.

Noch lehrreicher für Autorinnen und solche, die es werden wollen, ist aber die Schreibroutine Kings. Er schreibt jeden Tag mit einem festen Ziel: 2.000 Wörter. Vorher verlässt er seinen Schreibtisch nicht, auch wenn er mit fortschreitendem Alter länger dafür braucht. Spoiler: Meistens ist er dennoch mittags fertig, wenn nicht, isst er am Schreibtisch. Vorher geht er spazieren, sein Arbeitsort ist immer der Gleiche, alles, was ablenkt, eliminiert er, die Tür ist zu, er hört Musik, meist das gleiche Stück in Dauerschleife. Er überarbeitet das Geschriebene für einen soliden ersten Entwurf, hört nach Erreichen seiner Quote aber sofort auf und hat danach frei. Grübeln, Verzetteln, all das lässt er so weg. Sein Fossil verblasst ohne die Routine, erklärt er, die Ideen müssen am Leben bleiben - und wenn er später ganze Stränge oder Personen „töten“ muss: Die erste Version, die Handlung, kommt auf Papier - damit sie am Leben bleibt.

Dann lässt er sie wochenlang liegen, gibt sie Leserinnen seines Vertrauens, und die Überarbeitungsphase beginnt - er nennt sie „die Zeit der offenen Tür“. Auch hier ist die Lektüre dieses unter extremen körperlichen Bedingungen entstandenen Buches erhellend. Im lesenswerten Nachtrag des Buches finden wir die Rohversion - die nackte Geschichte, geschrieben mit geschlossener Tür. Es folgt die Überarbeitung, die Anwendung des Werkzeugkastens vor dem Öffnen der Tür, nach der - versprochen - auch langjährige Zeitungsredakteure die Schönheit des Kürzens fühlen können.

Stephen King: Das Leben und das Schreiben, neubearbeitete Taschenbuchausgabe von Heyne 2011; Originalausgabe „On Writing – A Memoir Of The Craft“ von 2000

Schreibübung

Stephen King entwickelt aus einer Situation eine Handlung. Die Handlung zu finden vergleicht er damit, ein Fossil zu heben. Mit einer Übung will er zeigen, wie du nach den Knochen graben kannst und schauen kannst, wie dein Fossil - deine Geschichte - aussieht. Erzähle auf fünf bis sechs Seiten von diesem Fossil. Dafür gibt er die (unten stehenden, ev klappen wir es ein und/oder verlinken es dann) Grundzüge vor. Und gibt diese Vorgabe: Vertausche das Geschlecht von Antagonist und Protagonist, bevor du die Situation zur Handlung ausarbeitest. Auf geht´s!

208-211 im Buch

(...)

Wohl jeder kennt die Grundzüge der folgenden Geschichte; mit leichten Änderungen taucht sie jede zweite Woche in den Polizeinachrichten Ihrer Tageszeitung auf. Eine Frau, nennen wir sie Jane, heiratet einen fröhlichen, gescheiten Mann, der vor sexueller Anziehungskraft nur so vibriert. Er soll Dick heißen. das ist wohl der freudianistischste Name der Welt. Leider besitzt Dick auch eine dunkle Seite; er ist aufbrausend, herrschsüchtig und vielleicht sogar paranoid (das finden Sie heraus, wenn er redet und handelt). Jane bemüht sich nach Kräften, über Dicks Fehler hinwegzusehen und die Ehe vor dem Scheitern zu bewahren (warum sie sich so anstrengt, werden Sie auch herausfinden; bei Ihrem Auftritt wird sie es Ihnen verraten). Die beiden bekommen ein Kind, und eine Weile läuft es besser. Als das Mädchen ungefähr drei Jahre alt ist, beginnen die Misshandlungen und Eifersuchtstiraden von Neuem. Zuerst sind diese Misshandlungen nur verbal, dann auch körperlich. Dick ist davon überzeugt, dass Jane mit jemandem schläft. Ist es jemand Bestimmtes? Keine Ahnung, ist mir auch egal. Vielleicht verrät Ihnen Dick am Ende, wen er in Verdacht hat. Wenn ja, wissen wir beide Bescheid, nicht wahr?

Irgendwann hält es die arme Jane nicht mehr aus. Sie lässt sich von dem Mistkerl scheiden und bekommt das Sorgerecht für die Tochter, Klein Nell. Dick beginnt, sie zu verfolgen. Jane reagiert mit einem Unterlassungsurteil, diesem Dokument, das so nützlich ist wie ein Sonnenschirm bei einem Hurrikan, wie Ihnen viele misshandelte Frauen bestätigen können. Schließlich wird Richard, der Mistkerl, nach einem Zwischenfall, den Sie in anschaulichen und beängstigenden Einzelheiten schildern werden (vielleicht schlägt er sie öffentlich zusammen), festgenommen und wandert ins Gefängnis. Das alles ist die Hintergrundgeschichte. Wie Sie die einarbeiten und wie viel Sie davon einflechten, ist Ihre Sache. Jedenfalls ist das nicht die Situation, von der ich sprach (das Fossil, mib). Die kommt jetzt.

Nicht lange, nachdem Dick im städtischen Gefängnis eingesperrt wurde, holt Jane Klein Nell von der Kindertagesstätte ab und bringt sie zu einer Geburtstagsfeier bei einer Freundin. Dann fährt Jane nach Hause. Sie freut sich auf zwei oder drei seltene Stunden Ruhe und Frieden. Vielleicht lege ich mich ein wenig hin, denkt sie. Obwohl sie eine junge, arbeitende Frau ist, fährt sie zu einem Haus - in gewisser Weise verlangt das die Situation. Wie sie an das Haus kommt und warum sie den Nachmittag frei hat, wird die Geschichte Ihnen verraten, und es wird sorgfältig geplant wirken, wenn Sie sich gute Gründe überlegen (vielleicht gehört das Haus ihren Eltern, vielleicht passt sie auf das Haus auf, vielleicht etwas ganz anderes).

Als sie die Tür aufschließt, bekommt sie ein ungutes Gefühl, ohne dass sie den Grund dafür benennen kann. Sie redet sich ein, es seien nur die Nerven, eine Überreaktion nach fünf Jahren Hölle mit Mr. Charmebolzen. Was sollte es auch sonst sein? Dick sitzt schließlich hinter Schloss und Riegel.

Bevor sie sich hinlegt, will sich Jane noch eine Tasse Kräutertee machen und die Nachrichten sehen (Können Sie den Kessel mit kochendem Wasser auf dem Herd später noch verwenden? Wer weiß, vielleicht.) Die erste Meldung in der Nachrichtensendung Action News at Three ist ein Schock für sie: Am Morgen sind drei Männer aus dem Gefängnis entflohen, ein Wächter wurde dabei getötet. Zwei der bösen Jungs wurden kurz darauf wieder gefasst, der dritte ist jedoch weiterhin flüchtig. Die Namen der Gefangenen werden nicht genannt (wenigstens nicht in diesen Nachrichten), doch Jane, die in ihrem leeren Haus sitzt (, was Sie inzwischen plausibel erklärt haben), weiß ohne jeden Zweifel, dass einer von ihnen Dick ist. Sie weiß es, weil sie inzwischen das unbehagliche Gefühl erklären kann, das sie beim Betreten des Hauses verspürte: der schwache, unaufdringliche Geruch von Vitalis-Haarwasser. Dicks Haarwasser. Jane sitzt im Sessel, die Muskeln gelähmt vor Furcht, unfähig aufzustehen. Und als sie Dicks Schritte die Treppe herunterkommen hört, denkt sie: Nur Dick würde dafür sorgen, dass er selbst im Gefängnis sein Haarwasser haben würde. Sie muss jetzt aufstehen, muss fortlaufen, aber sie kann sich nicht bewegen….

Jetzt bist du dran!

Keine schlechte Story, was? Meiner Meinung nach jedenfalls, aber sie ist nicht unbedingt etwas Besonderes. Wie ich bereits am Anfang sagte, GESCHIEDENER EHEMANN SCHLÄGT (oder ERMORDET) EXFRAU steht jede zweite Woche in der Zeitung - traurig aber wahr. Ich möchte jetzt von Ihnen, dass Sie für diese Übung das Geschlecht von Antagonist und Protagonist vertauschen, bevor Sie die Situation in Ihrer Erzählung ausarbeiten. In anderen Worten: Machen Sie die Exfrau zur Verfolgerin (vielleicht flieht sie nicht aus dem Knast, sondern aus einer Nervenheilanstalt) und den Mann zum Opfer. Erzählen Sie, ohne sich vorher etwas zurechtzulegen - lassen Sie sich von der Situation und der unerwarteten Umkehrung leiten. Ich bin überzeugt, dass Sie das spielend schaffen ….aber nur, wenn Ihre Figuren glaubwürdig sprechen und handeln. (....)

Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben

Roy Peter Clark, ein erfahrener Journalist und Vizepräsident des renommierten Poynter Instituts, hat ein praxisnahes Handbuch für Autoren, Journalisten und Texter geschaffen.

Rezension von Jörg Sadrozinski