Über das Leben und das Schreiben
Dezember 19, 2024
Das große Spiel
Januar 6, 2025Über das Leben und das Schreiben
Dezember 19, 2024
Das große Spiel
Januar 6, 2025Buch des Monats – Januar
Pleasure
Jovana Reisinger
„Pleasure“ von Jovana Reisinger ist ein Buch, über das sich alle aufregen werden, die Glamour und Style für oberflächlich halten. Für mich ist es ein Manifest und die Aufforderung, mein Leben zu ändern.
Rezension von Luisa Gehnen

„Was macht eigentlich die Prostituierte auf dem roten Teppich?“ Mit diesem Kommentar zum Auftritt von Jovana Reisinger - pinkfarbenes La-Perla-Kleid, High Heels mit Stöckelschuhen und Mantel mit Penis-Aufdruck - beginnt Pleasure, ein Essayband, der so viel mehr ist als die Geschichte einer Beleidigung. Pleasure ist ein Manifest, ein Bekenntnis und eine Kampfansage an die Leistungsgesellschaft. Es ist der Versuch, Lustbefriedigung, Glamour und Klassenunterschiede auf eine Weise zu verhandeln, die provoziert, unterhält und begeistert.
Reisinger schildert in ihrem Buch ihren Aufstieg von der Tochter einer finanziell instabilen Wirtshausfamilie zu einem Leben als Autorin, Künstlerin und Filmemacherin, das sie selbstbewusst als fotzig bezeichnet. Ein Begriff, der sich durch jede Erzählung zieht und zur ästhetischen wie politischen Leitkategorie wird. Was für viele als billig, vulgär oder oberflächlich gilt, ist für Jovana Reisinger ein performativer Akt ihres Lebens als Gesamtkunstwerk: Lange Gelnägel, glitzernde Taschen, transparente Kleider - all das wird bei ihr zur stilistischen Kampfansage, zur bewussten Rebellion gegen die Zuschreibungen einer Gesellschaft, die bestimmt, was als wertvoll gilt und wer dazugehört.
Aufzählungen von Konsumobjekten und Designerlabels füllen die Seiten so raumeinnehmend, ausufernd und intensiv, wie Reisingers Leben selbst es ist. Wobei Pleasure kein reiner Konsumrausch ist, auch wenn es sich oft so ließt. Reisinger bewegt sich gekonnt zwischen autobiografischer Freizügigkeit, intellektuellem Essay und polemischem Manifest. Immer wieder hinterfragt sie die Regeln, die bestimmen, wer Luxus und Genuss leben darf, und entlarvt die Doppelmoral, die Konsum als Zeichen von Zugehörigkeit missbraucht:
"Während die Unterschicht für ihren maßlosen Konsum der falschen Dinge verurteilt wird (Alkohol, Zigaretten, Energydrinks, Fast Food und Fast Fashion), gilt der Erwerb teurer (unnötiger) Objekte in anderen Schichten als Beweis einer erfolgreichen Lebensführung (Auto, Jacht, Jet, Pool, Villa, Zuchttiere, Alkohol, Zigarren, Delikatessen). Konsum als Erkennungsmerkmal.“
Das Manifest für Glamour und Genuss
Das zentrale Anliegen von Pleasure ist es, Genuss von der Scham zu befreien. Warum, so fragt Reisinger, sollten wir uns für Dinge schämen, die uns Freude bereiten, nur weil sie vermeintlich banal oder unintellektuell sind? In der bewussten Aneignung und Umdeutung von vermeintlichen Oberflächlichkeiten wie weißen Herrenhemden oder langen Fingernägeln liegt für sie eine feministische Kraft und Ästhetik, die rebellisch und befreiend zugleich ist. In bewusster Anlehnung an Susan Sontags Camp-Begriff - eine überspitzte, ironische Form des Stils - erhebt sie Fotzigkeit zur Lebenshaltung und verwendet den Begriff mit einer fast beiläufigen, fast inflationären Selbstverständlichkeit, als ob er kein gesellschaftliches Stigma trüge“. Fotzigkeit bedeutet für sie, die Erwartungen an Frauen, insbesondere aus der Arbeiterklasse, zu brechen und neu zu interpretieren. Es geht darum, einen Raum einzunehmen, der einem nicht zugedacht ist, und bewusst mit Stereotypen zu spielen.
In ihrer eigenen Geschichte illustriert Reisinger diesen Ansatz eindrucksvoll anhand von Kleidung, Essen und Schlaf – zentrale Elemente von Genuss und Zugehörigkeit, die sich konsequent durch ihr Buch ziehen. Kleidung ist für Reisinger eine Möglichkeit, Zugehörigkeit zu performen – eine Versicherung, dass sie sowohl in der Hochkultur als auch in der High Society mitspielen kann. Essen wird bei ihr zum Symbol für Genuss und Exzess, Schlaf zur ultimativen Form der Erholung und des Widerstands gegen die Leistungsgesellschaft.
„Das Faulenzen ist die bequemste und feinste Verweigerungshaltung vor der Leistungsgesellschaft. Die genialste Form des Widerstands.“
Pleasure bleibt ein politisches Buch, trotz glitzerndem Humor und einer scheinbaren Leichtigkeit. So wie alle schillernden Facetten von Reisingers hart erkämpftem Leben immer auch politisch sind. Sie setzt sich mit Klassenunterschieden auseinander, entlarvt die Mechanismen, die Menschen ausschließen oder abwerten, und zeigt die enge Verknüpfung von Herkunft und Konsum. Arbeitsgrundlage dafür ist ihre eigene Geschichte als Arbeitermädchen, das den Klassenwechsel – vermeintlich – geschafft hat.
Doch bei aller Schärfe, mit der Reisinger kulturelle Barrieren und Klassenunterschiede seziert, zeigt sie innere Widersprüche auf: Kann man ein System kritisieren und trotzdem in ihm brillieren? Kann man Konsum feiern und gleichzeitig die ausbeuterischen Strukturen dahinter ignorieren? Reisinger beantwortet diese Fragen nicht endgültig, doch sie stellt sie auf eine Weise, die zum Nachdenken zwingt. Es macht Spaß, ihre wilde Mischung aus Genussberichten, gesellschaftlichen Analyse und provokativen Thesen zu lesen, ihre bewusste Inszenierung als Tussi, die Männer auf Lover und Crushes reduziert, zu bestaunen. Pleasure ist freizügig, lustvoll und schmerzhaft - eine Feier des Lebens und eine Herausforderung für alle, die glauben, Genuss sei oberflächlich. Für mich ist Pleasure ein Vorsatz.

Buch des Jahres, Buch des Monats |
Das große Spiel
Wie man es schafft, mit einem Roman Hoffnung zu stiften in trostlosen Zeiten? Richard Powers fragen!

Buch des Monats | November
Taumeln
Sina Scherzant führt in ihrem Roman „Taumeln“ Suchende immer wieder in den Wald und uns zu Fragen, die wir uns lieber nicht stellen

Buch des Monats | Oktober
Okaye Tage
Einen Liebesroman, der realistisch, ohne Kitsch die Tiefen und Höhen des Verliebtseins zeigt. Kann es den geben?

Buch des Monats | September
Die schönste Version
Ist es nicht schön, wenn du dich durch ein Buch so sehr verstanden fühlst, dass du dich schämst für Dinge in deiner Jugend?

Buch des Monats | August
Die Geschichten in uns
Stell dir vor, du schreibst einen Roman, und dann kriegst du ein Buch in die Finger, in dem fast alle Fragen beantwortet werden, die dich seit Monaten quälen.