Zeiten ohne Wende
April 28, 2025
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April 28, 2025

Buch des Monats – Mai

Tod durch tausend Schnitte

Ella Berman

In „Before we were innocent“ erzählt Ella Berman nicht nur von einem Verbrechen, sondern vor allem davon, was danach bleibt – von Schuld, Schweigen und der Suche nach Wahrheit.

Rezension von Luisa Gehnen

Drei privilegierte Freundinnen aus Kalifornien – Bess, Joni und Evangeline – verbringen nach dem Schulabschluss ihren letzten sorglosen Sommer in Griechenland auf der Insel, auf der Evangeline die Sommer ihrer Kindheit verbracht hat. Doch nach einer Nacht voller Alkohol, Eifersucht und Spannungen ist Evangeline tot – und Bess und Joni kehren allein zurück. Obwohl sie nie verurteilt wurden, zerreißt die mediale Öffentlichkeit ihre Leben in Stücke. „Tod durch tausend Schnitte“ – nicht durch ein Gerichtsurteil, sondern durch Schlagzeilen, Forenkommentare, Talkshow-Framing.

Der Roman wechselt zwischen der Vergangenheit 2008 in Griechenland und der Gegenwart 2018. Während Bess zurückgezogen in der Wüste lebt, hat Joni ihre Rolle als „überlebende Freundin“ in eine Karriere als Selbsthilfe-Influencerin verwandelt. Als sie zehn Jahre später mit einer neuen Bitte um ein Alibi vor Bess’ Tür steht, beginnt die Vergangenheit sich wieder in die Gegenwart hineinzuschieben.

Ich bin kein Fan von True-Crime-Lektüre. Was mich an diesem Buch aber begeistert, ist nicht das Rätselhafte am Tod von Evangeline, sondern dass der Roman viel mehr ist: Er zeigt eindrücklich, wie leicht man in der öffentlichen Wahrnehmung missverstanden und falsch dargestellt werden kann – ein zentrales Thema unserer Zeit. Was die Freundschaft der drei Mädchen so besonders macht, ist ihre Konstellation, die so nah, so intensiv, so kompromisslos war – und eben genau deshalb auch so fragil. Und gleichzeitig hat mich beim Lesen die Frage nicht losgelassen, was es über unsere Gesellschaft sagt, wenn junge Frauen in der Öffentlichkeit nicht als Menschen, sondern als Projektionsflächen behandelt werden. Als Sünderinnen oder Heilige, ohne Zwischentöne.

Was „Before We Were Innocent“ besonders macht, ist die Charakterzeichnung der Hauptfiguren. Die Geschichte lebt nicht vom Thrill, sondern von der emotionalen Wucht der Figuren. Die Freundschaft zwischen den Mädchen ist alles andere als klischeehaft – sie ist widersprüchlich, voller Machtspiele, Abhängigkeiten, aber auch echter Nähe. Besonders Bess, als unzuverlässige Erzählerin, bleibt ambivalent – eine Figur, die man verstehen will, aber nie ganz einordnen kann.

Was mich besonders berührt, ist die eindringliche Darstellung weiblicher Freundschaft: Wie nah sich junge Frauen sein können, wie schnell sich Nähe in Rivalität verwandelt, und wie tief Verletzungen gehen, wenn Vertrauen gebrochen wird. Die Autorin hat dies mit großem Geschick erzählt: „Manchmal fängt dein ganzes verdammtes Leben aus keinem anderen Grund Feuer, als um dich daran zu erinnern, wie zerbrechlich alles ist. Wie wenig Kontrolle wir über all das haben“. Der Roman zeigt, dass Freundschaft nicht immer heilend ist – sie kann auch fordern, manipulieren, zerstören. Freundschaft, Loyalität, Schuld und Erinnerung greifen auf subtile Weise ineinander und erzeugen eine dichte Atmosphäre.

Ist das eine toxische Freundschaft? Vielleicht. Vielleicht ist die Freundschaft der drei aber auch einfach eine enge Verbindung, die über ihre Grenzen hinausgewachsen ist. „Wir werden immer miteinander verbunden sein“ – dieser Satz, der mehrfach fällt, wird zum Echo, das sich durch das ganze Buch zieht. Er ist Versprechen, Drohung und Schicksal zugleich.

Eindrucksvoll zeigt Berman, wie junge Frauen zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Fantasien werden – als Verführerinnen, Sünderinnen oder Täterinnen, aber nie als Jugendliche auf der Schwelle zum Erwachsenwerden. Evangeline wird von den Medien zur reinen Märtyrerfigur stilisiert, die nur als schön und tugendhaft erinnert werden soll – ein Bild, das ihrer komplexen Persönlichkeit nicht gerecht wird. Gleichzeitig geraten Bess und Joni ins gegenteilige Extrem: Sie gelten als „triebgesteuerte Täterinnen“. In dieser Inszenierung verlieren die tatsächlichen Geschehnisse an Bedeutung – entscheidend ist, welche Geschichte sich besser vermarkten lässt. Dass alle drei Mädchen aus privilegierten Verhältnissen stammen, verstärkt die Vorurteile: Sie gelten als zu wohlhabend, um Opfer zu sein, und als zu anziehend, um Unschuld zu verkörpern. „Before We Were Innocent“ begnügt sich nicht damit, diese Mechanismen zu benennen – der Roman legt sie mit analytischer Präzision offen, zeigt die Leerstelle in der Wahrheit, das Nachbeben im Inneren der Betroffenen und richtet subtil über das öffentliche Urteil, das in seiner Härte oft mehr über die Gesellschaft aussagt als über die Tat selbst.

Bermans Sprache ist ruhig, aber eindringlich. Sie erzählt nicht reißerisch, sondern mit einem tiefen Gespür für psychologische Zwischentöne. Sie interessiert sich weniger für die Frage, was passiert ist, als für die, wie man danach weiterlebt – oder eben nicht.

Eine dringende Empfehlung – für alle, die glauben, dass man mit 18 alles im Griff hat. Und für alle, die wissen, wie schmerzhaft man sich irren kann.

Before we were innocent. Ella Berman, übersetzt von Elina Baumbach, 448 Seiten, pola, Köln 2025

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