1984
Juli 15, 2025
1984
Juli 15, 2025

Buch des Monats

Im Leben nebenan

Anne Sauer

Anne Sauer porträtiert in ihrem Debütroman „Im Leben nebenan“ zwei Versionen der gleichen jungen Frau: Der einen wird die Entscheidung über das Kinderkriegen abgenommen, die andere beginnt, ihren Entschluss anzuzweifeln, Mutter zu werden. Egal, wie du dich entscheidest – es ist falsch.

Rezension von Dominik Steiniger

Kaum eine Entscheidung lenkt unser Leben in so gegensätzliche Richtungen: ein Kind zu bekommen oder keins. Unumkehrbar ist die Entscheidung, sie wird Menschen für den Rest ihres Lebens verfolgen. Antonia ist Anfang dreißig und steht an der großen Weiche des Lebens: Kinder kriegen oder lieber nicht? Ihr Freund Jakob verwaltet diese Frage mit Excel-Tabellen und Zeitplänen – romantisch wie ein Steuerberater. Als ob das nicht schon reizvoll genug wäre, stolpert Antonia plötzlich durch eine Art Schicksals-Falltür direkt ins Paralleluniversum.

An diesem Punkt verzweigt sich die Handlung von Im Leben nebenan, die eine Antonia wird eines Morgens wach, auf ihrem Bauch liegt ein Säugling – ihre gerade auf die Welt gekommene Tochter Hanna, wie sich herausstellt. Von Jakob, ihren Freunden, ihrem Job, ihrem Leben: keine Spur. Stattdessen ist da Adam, von dem sie sich zwischen Abi und Umzug getrennt hatte, jetzt  lebt sie mit ihm zusammen in einem großen, teuer eingerichteten Haus in ihrem Heimatdorf.

Ab hier erzählt Anne Sauer die Geschichten parallel: Die andere Antonia (genannt Toni) lebt das Leben mit Jakob in der Großstadt weiter, während Antonia in ihrem Heimatdorf in ein Leben hineinfällt, das nicht ihres ist: Sie hat ein Kind auf dem Schoß, aber keine Erinnerung an die Schwangerschaft; sie ist mit Adam zusammen, weiß aber nicht, was in den 13 Jahren passiert ist, seit sie sich getrennt hatte. Welche Entscheidungen und Erlebnisse sie dahin geführt haben, wo sie jetzt ist: weiß sie nicht. Sie versucht, das Leben, an das sie sich erinnert, wiederzufinden und scheitert – findet die Orte nicht, die Menschen nicht, nicht auf Google Maps, nicht in ihrem Adressbuch, nirgendwo.

Während Antonia sich nach anfänglich großer Verzweiflung und Überforderung langsam in das neue alte Leben einfindet, sich mit der Rolle als Mutter arrangiert, wird Tonis Großstadtleben auf den Kopf  gestellt. Sie verliert ihren Job, Jakob verkauft auf Festivals Merchandise-Artikel, verdient oft gerade genug, um seine Kosten zu decken.

Mit Tonis Job verlieren die beiden viele Annehmlichkeiten, die sie finanziert hat. Und sie merkt, dass Jakob zwar immer wieder seinen Kinderwunsch formuliert, aber kaum Energie in Beratungstermine und Untersuchungen steckt. Die beiden Erzählstränge zeigen uns immer wieder die Klischees, Romantisierungen und Stereotype über Beziehungen, Elternsein und besonders Mutterschaft.

Leben A: kinderlos, Latte Macchiato in der Großstadt, dafür jede Menge schiefe Blicke von Freundinnen mit Bugaboo-Kinderwagen: „Wie, du willst keine Kinder?“ Leben B: Kaiserschnittnarbe, ein schreiendes Säugling-Abo auf Lebenszeit, Filterkaffee im Heimatdorf und Jugendliebe Adam als Bonus-Ehemann. Plus: ein halbes Dorf, das besser weiß, wie Stillen, Schlaftraining und Selbstaufgabe funktionieren. Der Clou: In keiner Variante ist Antonia glücklich. In Welt A fehlen die Kinder, in Welt B der Schlaf. In beiden fehlt vor allem eins: eine Bedienungsanleitung fürs Erwachsensein.

Anne Sauer wagt ein literarisches Gedankenexperiment, das viele von uns schon beschäftigt: „Was wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte?“ Ihre Heldin Antonia bekommt die einmalige Chance, zwei Lebensentwürfe parallel zu durchleben – einmal kinderlos in der Großstadt, einmal junge Mutter im Heimatdorf. Nur: die beiden wissen nichts voneinander, der Blick auf beide Welten bleibt uns Lesern vorbehalten.

Kaum eine Frage spaltet Freundeskreise, Familien und Instagram-Timelines so sehr wie die nach Kindern, Selbstverwirklichung und dem „richtigen“ Lebensweg. Sauer trifft hier einen Nerv, indem sie beide Varianten ungeschönt ausleuchtet: die Sehnsucht nach Freiheit und die Erschöpfung im Elternchaos.

Gerade die realistische, bisweilen schonungslose Darstellung von Mutterschaft bricht mit Klischees und liefert Identifikationspotenzial: Leserinnen und Leser finden ihre eigenen Lebensentscheidungen gespiegelt – und fühlen sich verstanden oder ertappt. Literarisch hebt sich der Roman nicht durch Sprachkunst oder formale Innovation ab, sondern durch die kluge Wahl seines Themas und den Humor, mit dem Sauer ein kollektives Lebensgefühl einfängt. Sie hält uns den Spiegel vor: Wir rennen durchs Leben, jonglieren zwischen Selbstverwirklichung und Still-BHs – und egal, wie wir uns entscheiden, irgendjemand findet es garantiert falsch. Perfektes Leben? Gibt’s nicht. Multiversum? Nur doppelt so viele Probleme, doppelt so viele Augenringe.

Antonias Überforderung, als sie plötzlich mit Kind aufwacht – sie wäre auch ohne den Moment des Plötzlichen nachvollziehbar, weil sie die Realität von vielen jungen Müttern ist. Das Kinderkriegen steht „Im Leben nebenan“ im Mittelpunkt - aber immer wieder bietet der Roman  erhellende Beobachtungen über Beziehungen, gesellschaftliche Erwartungen oder die eigenen Lebensentscheidungen: Wie will ich  leben, wie bewusst treffe ich Entscheidungen, die mein Leben in eine Richtung lenken, welchen Einfluss haben meine Entscheidungen auf andere?

Im Leben nebenan, Anne Sauer, 272 Seiten, dtv, München 2025.

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