Kein Licht wie die Sonne
Februar 27, 2025
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Buch des Monats – März

Mama, bitte lern Deutsch

Tahsim Durgun

Eigentlich hätte das Buch „Mama, bitte lern Deutsch“ von Tahsim Durguns Mutter geschrieben werden sollen – denn es ist ihre Geschichte. Ihre Stimme. Aber sie kann kein Deutsch. Doch, sie kann Deutsch, ihr Deutsch.

Rezension von Luisa Gehnen

In Deutschland gilt: Wer sich nicht perfekt ausdrücken kann – akademisch, akzentfrei, bürokratisch –, der wird oft überhört. Also sprechen andere für sie, leider auch viel zu oft: die Kinder. Tahsim Durgun hat für seine Mutter ein Buch geschrieben, das endlich sichtbar macht, was zu lange unsichtbar geblieben ist.

Aufwachsen im Übersetzungsmodus

In Mama, bitte lern Deutsch geht es um viel mehr als um Sprache. Es geht um das Aufwachsen zwischen zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei Welten. Durgun erzählt autobiografisch, mit Schmerz, Liebe und großem Humor. Er nimmt uns mit in seine Kindheit in Oldenburg, nimmt uns mit zu Schulfesten, bei denen er dolmetschen muss; mit zu Behördengängen, bei denen er als Grundschüler die Aufenthaltsdokumente seiner Familie übersetzt; mit zu Schafschlachtungen beim Onkel in Hannover und mit zu Erdbeermilch-Mädchen aus der Klasse, die seine Ferienerlebnisse befremdlich finden.

Diese Gegensätze macht Durgun greifbar, er verwebt klug sprachliches Lernen mit biografischem Erzählen und zeigt so, warum Sprache Macht ist. Wer sie beherrscht, darf mitreden. Wer nicht, wird bevormundet. Oder gleich übergangen.

Zwischen Witz und Wunde

Durgun schreibt nicht auf Kosten anderer. Er nimmt sich selbst nicht zu ernst, aber seine Geschichte umso mehr. Seine Eltern, kurdischen Yeziden aus der Türkei, sind vor über 35 Jahren nach Deutschland migriert und haben hier vier Kindern wortwörtlich das Leben geschenkt, von denen allerdings nur einem von Geburt an ein deutscher Pass gegönnt war. So kann man gleichzeitig lachen und erschüttert sein, etwa wenn er von cholerischen und inkompetenten Lehrkräften erzählt, von der Fußwaschung im Religionsunterricht oder dem Moment in seiner Kindheit, als ihm ein Ablehnungsbescheid in die Hand gedrückt wird.

Die Hauptfigur ist seine Mutter, eine Frau, die im Kurdischen lyrisch, lautmalerisch, bildreich spricht – aber im Deutschen verstummt. Weil ihr die Kraft fehlt, sie hat sich aufgeopfert für ihre Familie, ihre Kinder, das Überleben. Sie hat funktioniert. Und damit das getan, was so viele Mütter mit Flucht- und Migrationserfahrung in Deutschland leisten.

Durguns Blick auf sie ist tief, er beschreibt eine Heldin und eine reale Frau zugleich. Eine, die träumen könnte, aber es nie gelernt hat. Die auf eine leise Weise politisch ist, ohne sich je als solche zu verstehen. Die Gedichte schreibt – und auch wieder nicht.

Ein Blick auf Integration, der vieles auf den Kopf stellt

Dieses Buch hat mir gezeigt, wie begrenzt der Begriff „Integration“ oft verwendet wird. Durgun beschreibt Integration nicht als Anpassungsleistung Einzelner, sondern als Beziehung, als gegenseitiges Aushandeln von Nähe, Zugehörigkeit, Raum. Er stellt die gängigen Narrative in Frage, ohne zu belehren. Er fragt: Wer darf überhaupt als „integriert“ gelten? Wer definiert das? Und warum wird dabei so selten zugehört?

Ich habe mich beim Lesen immer wieder dabei ertappt, meine eigenen Annahmen über das Zusammenleben in diesem Land zu bezweifeln. Und habe gestaunt über Eltern, die jede Behördensprache fließend sprechen, die keine Angst hatten, Formulare auszufüllen, die nie gefragt wurden, ob sie wirklich dazugehören. Wir waren immer Teil des „Wir“.

Für wen dieses Buch geschrieben ist – und wer es lesen sollte

„Mama, bitte lern Deutsch“ ist kein Buch, das Mitleid erzeugen will. Es ist kein Jammern, kein Klagen. Es ist ein Sichtbarmachen. Ein Erzählen darüber, was viele erleben, aber kaum jemand ausspricht. Für Menschen wie mich – weiß, ohne Migrationsgeschichte, mit Muttersprache als Eintrittskarte ins Bildungssystem – ist es die Einladung, sich zu öffnen und zuzuhören. Durguns Tonfall macht das möglich. Er verurteilt nicht, er verschweigt nichts.

Und gerade deshalb wünsche ich mir, dass dieses Buch nicht nur von denen gelesen wird, die sich darin wiederfinden – sondern vor allem von denen, die sich bisher nie gefragt haben, wie es ist, mit zehn Jahren für das Bleiberecht der eigenen Familie verantwortlich zu sein. Von Lehrkräften, Politikerinnen, Beamten, Ärztinnen – von all den Menschen, die täglich entscheiden, ob jemand gehört wird oder nicht.

„Mama, bitte lern Deutsch“ ist ein Buch zum Lachen und zum Weinen. Es öffnet Türen, aber verlangt auch, dass wir durch sie hindurchgehen. Tahsim Durgun hat mit diesem Buch seiner Mutter eine Stimme gegeben - und einer ganzen Generation. Wie sollten die Stimme hören, das Buch sollte in Schulklassen gelesen werden, in Fortbildungen, in Redaktionen, in Parlamenten.

Tahsim Durgun, Mama, bitte lern Deutsch, Knaur HC, 2025, 208 Seiten

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