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Buch des Monats

Taumeln

Sina Scherzant

Sina Scherzant führt in ihrem Roman „Taumeln“ Suchende immer wieder in den Wald und uns zu Fragen, die wir uns lieber nicht stellen

Rezension von Dominik Steiniger

Wenn es auf das Jahresende zugeht, denke ich oft an die, die an Weihnachten und Silvester nicht mehr am Tisch sitzen. Die Trauer um verlorene Menschen ist mit uns am Tisch. In „Taumeln“ geht es um einen Menschen, der verschwunden ist, für immer? Das Buch von Sina Scherzant hat mir die Frage gestellt: Wohin würde mich die Angst treiben? Welche Kräfte würde sie in mir freisetzen?

Jeden Samstag treffen sich acht Menschen im Wald, am Rande ihres Dorfes, und beginnen ihre Suche nach Hannah. Jeden Samstag seit zwei Jahren, die acht Menschen sind die letzten von Hunderten.

„Taumeln“ ist kein True-Crime-Roman, lebt nicht von einer spannungsgeladenen Spurenjagd, das Buch erzählt berührend normal von einer Suche. Inge, Frank und Hartmut leben im Dorf, aus dem Hannah verschwand, sind Rettungssanitäter und Fremdenführerin. Ihnen widmet Sina Scherzant ihre Erzählung: Warum sind sie immer noch jeden Samstag da? Was treibt sie an? Denn eines wird schnell klar: Kaum jemand glaubt wirklich daran, Hannah noch zu finden im Wald.

Die wöchentlichen Waldrunden sind der immer wiederkehrende Ausgangspunkt der Geschichte, aus ihnen entfaltet sich die Erzählung, die sich behutsam den Figuren nähert und der Frage auf den Grund geht, was sieben Personen, die nichts mit Hannah zu tun hatten,  jeden Samstag im Wald machen.

Der Mittelpunkt der Gruppe ist Luisa, Hannahs Schwester. Alle in der Gruppe schauen auf sie, die Gruppe braucht Luisas Glauben, die Schwester noch finden zu können. Die Geschichte nimmt uns immer wieder mit in das Leben der Figuren außerhalb des Waldes, zeichnet ein Bild von ihnen, das im Laufe des Romans immer klarer wird. Die Erzählung zeigt die persönlichen Schicksale der Figuren, einige von ihnen trauern um Mitmenschen, andere erleben häusliche Gewalt.

So wird nach und nach immer klarer, was die Mitglieder der Gruppe jede Woche aufs Neue antreibt: Sie sind auf der Suche nach sich selbst und haben an mich, ganz nebenbei, die Frage gestellt: Was ist mit denen, die für ihr Leid nicht genug Aufmerksamkeit erzeugen können?

Das gelingt, weil Sina Scherzant allen Figuren genügend Aufmerksamkeit schenkt - und trotzdem Luisa eine besondere Stimme gibt. Ihr ist die Ich-Perspektive vorbehalten, sie erzählt aus der Zeit unmittelbar nach Hannahs Verschwinden, macht deutlich, wie die sehr stabile Familie nach und nach in sich zusammensackt. Luisas Monologe veranschaulichen die Konflikte in der Familie, vor allem den Streit zwischen den beiden Schwestern. Scheibchenweise erfahren wir von ihren komplett entgegengesetzten Erwartungen an das Leben, die immer wieder Streit auslösen, begreifen aber auch, wie nah sich die Schwestern trotz aller Konflikte standen.

Luisa quälen Fragen, sie sind während der Lektüre zu meinen Fragen geworden: Darf sie bereits um ihre Schwester trauern? Wenn sie trauert, wäre es das Eingeständnis, die Hoffnung auf eine Rückkehr der Schwester aufgegeben zu haben? Ist es in Ordnung, wenn sie nicht nur um ihre Schwester trauert, sondern auch um die vergebene Chance, das Dorf verlassen und ein eigenes Leben beginnen zu können? Sucht sie nach ihrer Schwester, um nicht den eigenen Weg finden zu müssen? Das sind alles Fragen, die der Roman an alle Trauernden richtet, die aus ihrer Trauer nicht mehr heraus finden. Diese Öffnung schafft Sina Scherzant, weil die Figuren ihres Romans im Umgang mit ihrer Trauer so glaubwürdig sind.

Mitten in dieser Schwere geben kleine, unkitschige Momente wie eine neue Liebe den Figuren Hoffnung, aber nicht nur ihnen.

Sina Scherzant, Taumeln, park x ullstein, 2024, 320 Seiten

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