Über das Leben und das Schreiben
Dezember 19, 2024Über das Leben und das Schreiben
Dezember 19, 2024Buch des Jahres
Das große Spiel
Richard Powers
Wie man schafft es, mit einem Roman Hoffnung zu stiften in trostlosen Zeiten? Richard Powers fragen!
Rezension von Cordt Schnibben
Mit meiner Enkelin Lotti, elf Jahre alt, war ich direkt nach Weihnachten einen Nachmittag lang in der größten Buchhandlung Hamburgs auf der Pirsch. Nach Stunden entschied sie sich für „Die Macht der Schoko-Magie“. Wenn ich es richtig verstanden habe, kann die Heldin in die Zukunft blicken, wenn sie Schokolade riecht – eine hoffnungsvolle Vision.
Während ich darauf wartete, dass sie sich entschied, stöberte ich über die Büchertische, mit denen Buchhändlerinnen versuchen, mir Bücher nahezubringen, die sie mögen. Kennt ihr diesen arroganten Reflex, Bücher nicht zu mögen, die man unbedingt mögen soll, weil sie von allen Seiten empfohlen werden? So war mir Richard Powers „Das große Spiel“ vorweihnachtlich auf die Nerven gegangen, weil er in Rezensionen unkritisch einheitlich in den Himmel gehoben worden war; misstrauisch hatte mich gemacht, wie viele und welche gesellschaftlichen Probleme Powers in dem Roman „bearbeite“; zum Gähnen hatte mich gebracht, dass der Roman als großer KI-Roman gepriesen wurde.
Ich habe mich im letzten Jahr intensiv mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, weil wir eine eigene KI, die Wolf-Schneider-KI, entwickelt haben und weiß deshalb, wie ratlos alle wissenschaftlichen Texte ausfallen, die versuchen, das tiefe Geheimnis der KI, ihre Wirkungsweise und ihre Gefahren befriedigend zu beschreiben. Sind nicht alle Romane und Filme suspekt, die hastig aktuelle Entwicklungen in der Gesellschaft für fiktionale Stoffe plündern?
Die kleine, schriftliche, nachweihnachtliche Schwärmerei einer Buchhändlerin auf dem Büchertisch brachte mich dazu, Richard Powers eine zweite Chance zu geben – und so entdeckte ich das Buch des Jahres 2024, meinetwegen das Buch des Jahres 2025.
„Das große Spiel“ ist ein Buch der Hoffnung, geschrieben von einem faktenkundigen Optimisten, von einem Physiker und Literaten, der Wissen in große, romantische Science-Fiction verwandeln kann. Die Story wirkt auf den ersten Blick wie am Reißbrett entworfen: Vier Protagonisten treffen auf einer abgelegenen Pazifik-Insel aufeinander; die Tiefseetaucherin Evelyne, die uns während ihren kunstvoll beschriebenen Tauchgängen auf den Gedanken bringt, dass die „Erde“ eigentlich „Ozean“ heißen müsste; die Künstlerin Ina, die aus dem Müll von paradiesischen Stränden Skulpturen macht; der Schwarze Bücherfreak Rafi, der einzige Lehrer auf der Insel und Poet; und schließlich der Multimilliardär Todd, ein Computernerd, der wirkt wie ein Klon aus Mark Zuckerberg, Bill Gates, Elon Musk, mal abgesehen davon, dass Todd das Meer mehr reizt als der Mars.
Todd will auf der Insel ein Paradies für staatskritische Milliardäre schaffen, die angeödet sind von den regulativen Zumutungen in der Demokratie. Sein Spielzeug, sein Herrschaftsinstrument, seine Geldmaschine ist „Playground“, eine KI-gesteuerte Online-Plattform mit eigener Währung und eigenem Nachrichtensystem, die alle User spielend süchtig macht.
Todd, Ina, Rafi waren Jugendfreunde, inzwischen sind sie Antagonisten im Kampf zwischen der Natur, dem Schönen und den Künsten auf der einen Seite und neuer Technologie, künstlicher Intelligenz und sozialen Medien auf der anderen Seite. Ina, Rafi und Evelyne verteidigen ihre Insel und deren natürliche und menschliche Werte gegen den Angriff der asozialen Moderne und der künstlichen Intelligenz, die der Insel eine visionäre Zukunft schenkt, sie plant und entwirft.
Fragt man die künstliche Intelligenz, was sie von ihrem Part in dem Roman hält, dann kritisiert ChatGPT nörgelnd den „belehrenden Ton“, die Darstellung „der positiven Seiten werde weniger gründlich untersucht“, das Ende des Romans sei „künstlerisch wertvoll“, könne jedoch „bei manchen Lesern Unzufriedenheit hervorrufen.“
Am Ende des Romans, so viel sei verraten, nähert sich Todd – allein auf seiner durch KI navigierten Yacht – der Insel. Mehr sei nicht verraten. Für den Literaturkritiker der Zeit, Volker Weidermann, ist „Das große Spiel“ nicht weniger als die Summe all seiner Bücher („Erstaunen“, „Die Wurzeln des Lebens“, „Das größere Glück“, „Das Echo der Erinnerung“ u.v.m.) und das letzte Argument, um Richard Powers den Nobelpreis zu verleihen.
Die Erinnerung daran, dass wir eine Welt unter Wasser zu verlieren haben, macht für mich „Das große Spiel“ zur Entdeckung am Ende, am Anfang eines Jahres.
Richard Powers: Das große Spiel, aus dem Amerikanischen von Eva Bonné, Penguin Books, 2024, 512 Seiten
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