Über das Schreiben
September 11, 2024
Okaye Tage
Oktober 16, 2024
Über das Schreiben
September 11, 2024
Okaye Tage
Oktober 16, 2024

Wiederentdeckt

Plantation Memories

Grada Kilomba

„Plantation Memories“ beleuchtet in vierzehn kurzen Stories den alltäglichen Rassismus und das Fortwirken kolonialer Strukturen. Durch die Verbindung von Interviews, Psychoanalyse, Poesie und Geschichte thematisiert das 2008 erschienene Buch die anhaltende Diskriminierung Schwarzer Menschen und bleibt bis heute relevant.

Wiederentdeckt von Ania Faas

Im Mai 2020 wird George Perry Floyd jr. getötet, weltweit breiten sich Demonstrationen über Großstädte aus, es ist ein mächtiges Bild, weil Schwarze Menschen sichtbar werden, black lives matter. Deutschlands Medien bemerken die ansässigen Afrodeutschen, sie tauchen jetzt in Texten und Filmen auf, als habe es sie zuvor nicht gegeben. Plötzlich können Gespräche beginnen. Werden endlich Gedächtnislücken und -gruften, Gerechtigkeitsabgründe beseitigt? 

Im Mai 2020 war dieses Buch schon zwölf Jahre alt: „Plantation Memories" von Grada Kilomba. Ein dünnes schwarzes Taschenbuch, leichte Überbreite. In einem deutschen Verlag erschienen, aber nur auf Englisch erhältlich. Aktuell klebt auf dem bildlosen Cover ein Sticker, „7. Auflage“. Im Untertitel steht Episodes of Everyday Racism. In vierzehn sehr kurzen Stories bringt Kilomba Interviews, Psychoanalyse, Poesie und das Erbe der Kolonialzeit zusammen. Ähnlich wie aktuell der Film „Dahomey“ von Mati Diop lässt auch sie sich von Genre-Regeln des Dokumentarischen nicht einschränken. Kilomba, geboren in Lissabon, lebt seit Jahrzehnten in Berlin und spricht ein deutsches Publikum an. 

Kommentare in Internet-Foren, Aufsätzen oder auf Social Media zeugen davon, für wie viele Leserinnen „Plantation Memories“ mehr ist als ein Buch. Ein How-to für einige, eine Bibel für manche. Denn es erzählt zwar, aber vor allem bewegt es Gedanken und Gefühle mit einer lyrischen Präzision. Es stößt Fensterflügel auf zu unserem Alltag, heute, hier, in Europa. Das erste Kapitel beginnt mit dem Mund, „einem sehr besonderen Organ“, das Sprache symbolisiert und Ausdruck. Im Rassismus wird es zum Organ der Unterdrückung par excellence, schreibt Kilomba. Der Mund wird zu dem Organ, das Weiße kontrollieren wollen und müssen, weil es Besitz verkörpert. Damit Sklavinnen und Sklaven nicht vom Zuckerrohr oder von Kakaobohnen essen konnten, wurden ihnen Metallsperren in den Mund gesteckt und mit einer Metallplatte und Bändern am Kopf fixiert. Rassismus, die Lehre von den superioren Körpern, machte aus Menschen die Einen und die Anderen. Die Herren der Plantagen - die Einen - nahmen Früchte aus dem Boden, der ihnen nicht gehörte. Dann legten sie den Besitzer*innen des Bodens Masken an, die unterstellten, dass sie, die Anderen, mit ihrem Mund etwas von den Früchten „wegnehmen“ könnten. 

Die Sprache ist in your face

Diese Täter-Opfer-Umkehr, wie man heute sagen würde, ist ein zentraler Punkt in Plantation Memories. Haare, Haut, Raum, Sprache, die ewige Frage „Woher kommst du?“ – immer geht es um die Beschreibung des Schocks, der in der Unterstellung liegt. Die Unterstellung befremdet und entfremdet. Der Schock entsteht, indem die Vergangenheit plötzlich und unerwartet in die Gegenwart rückt. Im Alltag entsteht der Schock durch Fragen und Blicke und Namen, er wird schon von Kindern empfunden. Wenn die koloniale Situation abrupt in die Wirklichkeit eindringt, schneidet sie die Verbindung zur Gesellschaft ab. Der Mund, der nicht essen und trinken darf, darf auch nicht sprechen. Die Anderen werden stumm gemacht, und sie bleiben es über Jahrhunderte. Sprechen und schreiben ist eine Notwendigkeit, um die allzu lange Stille zu beenden. 

Der Schock ist ernst, das Buch ist ebenfalls ernst. Es beginnt mit der historischen Skizze, um dann in sehr gegenwärtige Szenen und Analysen überzugehen, so wenig lustig oder gefällig wie ein Raptext. Beliebte Rap-Adjektive sind direkt, ideal, weise, sicher, deep, naughty. Nicht happy, nicht swinging, kein rolling. Auch Kilomba spricht klar, in your face. 

Grada Kilomba, die Autorin, ist Psychologin und inzwischen eine Künstlerin mit Solo- Ausstellungen im Somerset House in London, im Pariser Palais de Tokyo, in der Pace Gallery in New York, im Museo Reina Sofia in Madrid, in der Norval Art Foundation in Kapstadt und derzeit in der Kunsthalle Baden Baden. „Plantation Memories“ ist ihr einziges Buch, ein Text, den sie später auch performen ließ, und von dem aus sie ihre künstlerische Karriere entwickelte. Die Körperlichkeit des Textes setzt sich in ihren Kunstwerken fort. Kilombas Weg, „Gewalt und Macht zu übersetzen“, sind oft transparente Gebilde aus Raum und Performance, aus Schrift, Semantik, Farbe, Stoff und Sound - zu erleben in „Table of Goods“, „Narziss und Echo“, „Opera to a Black Venus“, „The Boat“. Die Schönheit dieser Gebilde liegt in einer durchgearbeiteten Schlankheit, die alle bleiernen Inhalte, die historischen Schichten und Überlagerungen zum Schweben bringt. 

Wie kann ein Werk, das nicht versöhnt und keine Hoffnung macht, so viele Leserinnen empowern? Als „Plantation Memories“ erschien, wäre es sicher leichter gewesen, das zu besprechen. Heute klingen Wörter, die darin auftauchen, wie Saiten in einem verstimmten Klavier: Rassismus, Trauma, Heilen, Gender, Intersektionalität. Diese Begriffe werden zur Zeit in Identitätskämpfen verschlissen. Beim Wiederlesen des Buchs verwandeln sie sich wundersamerweise zurück in etwas Klares, weil auf seinen Seiten kein Hintergedanke versteckt liegt. Es ist ein poetisches Protokoll, das schlicht sagt: Jeden Tag eine Wiederaufführung von Kolonialismus, das ist Alltagsrassismus. 

Wenn Kilomba gegen Ende zwei Fragen vergleicht, erschließt sich die Verbindung zwischen ihrem Text und ihrer performativen Kunst. Frage eins: Was hast du dann gemacht? Frage zwei: Was hat es mit dir gemacht? Beide beziehen sich auf eine rassistische Situation. Die erste Frage verlangt von den Befragten, zu reagieren, also in Beziehung zu gehen. Die zweite nicht, sie bleibt innen, und darin liegt eine Option auf Stärke und Unabhängigkeit, auf Besitz. Mit ihrem psychoanalytischen Ansatz reiht sich Kilomba ein in die Tradition von Vordenker*innen der Dekolonisierung wie Frantz Fanon, aber die Verbindung mit Kunst und Poesie macht ihr Werk einzigartig. Für deutsche Leserinnen schwingen darin Debatten mit, die sich um die große gesellschaftliche Aufgabe der Zeit drehen, die Erinnerungskultur. Kilomba ist keine Vertreterin von „Aufarbeitung“ oder Vermittlung. Sie ändert nur die Perspektive und stellt fest: „Wir können nicht einfach vergessen, und wir können es nicht vermeiden, uns zu erinnern.“

Grada Kilomba, Plantation Memories: Episodes of Everyday Racism, Unrast Verlag Münster, 2008

Wiederentdeckt

Krieg und Frieden

Tolstois „Krieg und Frieden“ ist ein epischer Roman, der mit brillanten Sätzen Geschichte, Macht und Menschlichkeit verbindet – zeitlos und unvergesslich.

Wiederentdeckt

Demon Copperhead

Eine brandaktuelle Hommage an Charles Dickens: Der mit dem Pulitzer Preis gekrönte Roman über ein Leben voller Ungerechtigkeit in den USA der Hillbillys ist ein grandioser sozialkritischer Schmöker - mit Zeug zum Standardwerk über den Zustand der amerikanischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert

Wiederentdeckt

Nur noch ein einziges Mal

Vor acht Jahren erschien „Nur noch ein einziges Mal“, die BookTok- Gemeinde machte den Roman zum Millionenseller. Colleen Hoovers erfolgreichstes Buch läuft nun im Kino. Anlass genug, noch mal rein zu schauen.

Wiederentdeckt

Der Report der Magd

Zeitlos dystopisch und abgrundtief verstörend: Der Roman für eine freie Welt.